Was wir entwerfen – und was Bewohner wirklich tun

Warum Verhaltenslücken die Gebäudebilanz noch immer untergraben

Erstellt von Dr. Haniyeh Sanaieian |

Gebäude werden mit Präzision geplant: Tageslichtberechnung, thermische Modelle, smarte Steuerungssysteme. Doch sobald Menschen einziehen, verändert sich alles.
Systeme werden übersteuert. Fenster bleiben im Winter offen. Räume passen sich dem Leben an – nicht der Simulation. Das Ergebnis? Eine Leistungslücke, die nicht technischer Natur ist, sondern menschlicher. Und solange wir sie nicht mitdenken, verlieren wir Wirkung, die eigentlich längst eingeplant war.

 

1. Wenn Planung auf Realität trifft

Die sogenannte Verhaltenslücke – also die Abweichung zwischen geplanter und tatsächlicher Nutzung – ist eines der beständigsten Probleme in Architektur, Technik und nachhaltiger Gebäudeentwicklung.

Denn selbst das ausgeklügeltste System bleibt dem Alltag ausgeliefert:

  • Ein Thermostat wird überklebt, weil jemand friert.
  • Automatische Jalousien werden deaktiviert – aus Privatsphäregründen.
  • Lüftungssysteme werden umgangen, indem Fenster dauerhaft geöffnet bleiben.

Vom sozialen Wohnungsbau in Großbritannien bis hin zu energieeffizienten Bürogebäuden in Asien zeigt sich das gleiche Muster:
Die geplante Leistung wird nicht erreicht – nicht, weil die Technik versagt, sondern weil Menschen anders handeln, als das Modell es vorgibt.

 

2. Zwei Lektionen aus der Praxis

Das Londoner Smart-Fassaden-Projekt

Für ein Wohngebäude in London entwickelte unser Team eine adaptive Fassade, die automatisch auf Lichtverhältnisse und Anwesenheit reagiert. Die Simulation versprach bis zu 45 % weniger Wärmeverlust im Winter.

Doch das Monitoring nach dem Einzug zeigte ein differenzierteres Bild. Einige Bewohner nutzten das System wie vorgesehen. Andere nicht:

  • Manche ließen die Verglasung dauerhaft geöffnet – für Frischluft oder Komfort.
  • Andere hielten sie geschlossen – aus subjektivem Sicherheitsgefühl.

Die Folge: Die tatsächlichen Einsparungen variierten stark von Wohnung zu Wohnung.

Die Erkenntnis: Wenn menschliches Verhalten nicht schon in der Planungs- und Simulationsphase mitgedacht wird, können selbst technisch anspruchsvolle Systeme in der Realität enttäuschen. Die Verhaltenslücke ist keine Randnotiz – sie ist das zentrale Risiko.

Das Bullitt Center in Seattle

Eines der nachhaltigsten Bürogebäude der Welt. Mit Net-Zero-Ambitionen.
Und doch: In den ersten Jahren wurden die Energieziele verfehlt.

Der Grund?

Die Bewohner öffneten Fenster und nutzten Sonnenschutz anders als erwartet.
Die Annahmen im Modell stimmten nicht mit dem tatsächlichen Verhalten überein. Erst nachdem das Designteam direkt mit den Bewohnern arbeitete – durch Schulungen, visuelles Feedback und einfache Bedienung – verbesserten sich die Kennzahlen.

Es war kein technisches Problem. Es war ein Beziehungsthema – zwischen Mensch und Raum.

 

3. Warum die Verhaltenslücke jetzt entscheidend ist

Mit zunehmendem Klimadruck und verschärften gesetzlichen Anforderungen wird diese Lücke existenziell. Sie entscheidet darüber, ob Gebäude ihre Ziele erreichen – oder nur gut gemeint scheitern.

Die Risiken, wenn sie ignoriert wird:

  • Regulatorisches Scheitern
    Gebäude verfehlen Standards oder Zertifizierungen, obwohl die Modelle gut aussahen.
  • Unzufriedenheit der Bewohner
    Komfortprobleme, Übersteuerungen oder Misstrauen gegenüber Technik untergraben den Nutzungserfolg.
  • Verschwendung von Investitionen
    Technologien, die im Modell glänzen, aber im Alltag versagen, werden zu toten Assets.
  • Verlust von Vertrauen
    Wenn Vorzeigeprojekte nicht liefern, schwindet die Glaubwürdigkeit von Planern, Investoren und Kommunen.

Gerade in Regionen mit Energiearmut oder Hitzerisiken ist das nicht abstrakt:
Dort wird aus einer Fehlplanung schnell ein öffentliches Gesundheitsproblem.

 

4. Wie wir für Verhalten mitplanen können

Was also tun? Wir müssen umdenken: Von Kontrolle zu Anpassungsfähigkeit.
Von Annahmen zu echter Beobachtung.

  • Bewohner früh und regelmäßig einbeziehen
    Mit Co-Design, Nutzungsszenarien und realitätsnaher Modellierung.
  • Post-Occupancy Evaluation (POE) ernst nehmen
    Nicht als Nachweis, sondern als Feedback-Schleife für Verbesserung.
  • Systeme menschlich und adaptiv gestalten
    Bedienung und Feedback müssen Vielfalt zulassen, statt starre Vorgaben zu machen.
  • Daten und Beobachtung verbinden
    Sensorik erklärt das "Was". Ethnografische Methoden erklären das "Warum".
  • Gebäude als lebende Systeme begreifen
    Mit Entwicklungsspielraum für Bewohner, Betreiber und Planungsteams.

Das Ziel ist nicht Kontrolle, sondern robuste Realität.

 

5. Was auf dem Spiel steht

Wenn wir die Verhaltenslücke nicht schließen, riskieren wir mehr als nur ein paar Kilowattstunden:

  • Vertrauen in nachhaltige Architektur
  • Wirkung von Klimaschutzpolitik
  • Lebensqualität in Quartieren, die eigentlich besser werden sollten

Wie das Londoner Beispiel zeigt: Selbst die intelligenteste Technik scheitert, wenn Verhalten nicht mitgedacht wird.
 

Die Zukunft, für die wir entwerfen müssen

Die Zukunft des nachhaltigen Bauens liegt deshalb nicht im perfekten Modell, sondern in Systemen, die mit dem Menschen zusammenarbeiten: adaptiv, offen, robust.

Wer bessere Gebäude will, muss nicht smartere Technik bauen, sondern Technik, die Verhalten miteinbezieht.

BRUSEGROUP hilft, Verhalten als Planungsfaktor zu integrieren

Wir unterstützen Städte, Entwickler und Planer dabei, menschliches Verhalten schon in der frühen Phase mitzudenken – datenbasiert, praxistauglich und gestalterisch stark.

Jetzt die Leistungslücke schließen. Mit Realität statt Annahme.